
Eingang Afrikanische Str. 146
Einmal den verwegenen Entschluss gefasst, des Weddings Kern und Wesen zu ergründen, begegnet man auf seiner Reise zu den historischen Quellen unweigerlich zwei Dingen. Zumindest dann, wenn man Namensherkunft, Gänse wie Mühlen und Eingemeindung schon weit hinter sich gelassen hat.
»Sehn’se, det is Berlin«
Zum einen wird man der Geschichte des roten Weddings begegnen. Es ist die Geschichte eines roten Bezirks sowie dessen aufmüpfigem Arbeitermilieus, auf das man sich auch heute noch allzu gerne beruft. Es ist eine Geschichte von den Schattenseiten einer Industrialisierung und dem politischem Widerstand der 1920er bis 1940er Jahre. Um es kurz zu halten, empfohlen sei an dieser Stelle dem Zugezogenen wie dem »inna- und außahalbschen Berlina« die Schrift zum Thema »Widerstand im Arbeiterbezirk« von Hans-Rainer Sandvoß sowie der Abschnitt Industriegeschichte »Vom Wedding in alle Welt« in: »Der Wedding. Auf dem Weg von Rot nach Bunt« von Gerhild H. M. Komander.
Zum anderen: möchte man die Menschen, die während der industriellen Umwälzung in Milieu und Mietskaserne ihr Dasein fristeten, besser kennen lernen, dann wird man in der Bücherei (Schiller-Bibliothek oder Bibliothek am Luisenbad) unweigerlich auf die leicht schnoddrig illustrierten Bücher des Mundartdichters Jonny Liesegang stoßen. Und um genau den soll es hier gehen. Bürgerlich als Johannes Haasis 1897 geboren, nimmt er 1933 nach ergangenem Arbeitsverbot und Verhaftung durch NSDAP-Anhänger den Namen seiner Ehefrau an und ist fortan Jonny Liesegang. Wie schwerlich hier Kiez und Milieu von Politik zu trennen sind erkennt man auch daran, daß Liesegang unter nationalsozialistischer Herrschaft gezwungen war, teils illegal als Schriftsteller und Illustrator zu agieren, bevor er 1943 schlussendlich zum Wehrdienst eingezogen wurde. Ja, der Wedding ist auch heute ohne seine politische Geschichte nicht zu denken und gehört wie »det ‘Roll’ zum ‘Mops’«.
»Mein Wedding«

Afrikanische Ecke Seestr.
Textauszug aus »Deine Sorjen uff ne Stulle«:
“Nu schtell dir bloß vor, wir wohnten an de Bahn! Janz abjesehn von den Krach, Tach und Nacht det Jerumple von die Züje… varrickt würd’ ick jlatt bei wer’n. Und du siehst ja, jenau kann man die Leute rin kieken! Kiek bloß! […] Und da – wat saachste dazu – da kämmt sich soja’ eene de Haare! An’t off’ne Fensta! Und in’t Hemde noch dazu!!” Er riß die Augen auf und rief:”Wo kämmt sich eene in’t Hemde?” Sie stutzte. Mißtrauisch sah sie ihren Mann an und:”Natierlich! Dir braucht man bloß wat von een fremdet Hemde zu azähl’n! Da reckste jleich’n Hals wie’n Jänserich! Valleicht fährste noch mal zerick? Denn siehste die Person noch!”
Jonny Liesegang, der Musensohn des Wedding. Eines untergegangenen Weddings vielleicht, »als der Wedding aus vielen, vielen Mietskasernen zusammengesetzt ist, deren jede einzelne ‘een Dorf is, wo eena den andan bessa kennt.. als der Betreffende sich selba’.« Vor allem die heute noch in einigen Antiquariaten erhältlichen Bände der Jahre 1938-1941 seien dem Suchenden nah ans Herz gelegt. »Det fiel mir uff!«, »Det fiel mir och noch uff!« sowie »Die Feldpostbriefe der Familie Pieselmann« und »Da liegt Musike drin«. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs veröffentlicht Liesegang noch mindestens ein weiteres Werk: »Det fiel mir trotzdem uff!«, bevor er 1961 im Wedding verstirbt. Hinterlassen hat er Geschichten mit so schönen Titeln wie »Der Jeburtstags-Aal«, »Der verhexte Waldi« oder »Mutter Schlabbes Weihnachten«.
Eine Stadt wie Berlin ist immer in Bewegung. »Nu ja, Se wissen ja wie’t so is!« Was aber würde Jonny Liesegang zum Wedding heute sagen? Würde er ihn ohne seine Straßenhändler und ohne Pferdekutscher überhaupt wiedererkennen? Würde er bedauern, dass das Evangelische Antiquariat auf der Müllerstraße nach 112 Jahren (sic!) schließt? Würde er für seine humoristischen Alltagsbeobachtungen noch immer det verwenden wie seinerzeit oder würde er das moderne dit aufgreifen? So wie’s an der Kreuzung Afrikanische Ecke Seestraße in großen, bunten Lettern geklebt zu lesen ist: »Ick steh uff Wedding, dit ist meen Ding«? Die großen bunten Letter an der Kreuzung wurden zwischenzeitlich geändert: aus dem det wurd’ das aktuell geklebte dit. Oder würde er sagen, dit und det, dies und das, dass seien doch eh zwei völlig verschiedene Dinge! »Sowat Dußlijet, ick könnt’ ma uffreje!«
Spuren im Kiez
An des Dichters ehemaligem Wohnsitz Pankstraße 79 im Gesundbrunnen erinnert heute nichts mehr an ihn. Seine letzte Adresse hingegen, eine Erdgeschosswohnung mitten im Afrikanischen Viertel gelegen, ziert seit seinem 20. Todestag, dem 30.3.1981 eine kleine Gedenktafel. Ansonsten drängt sich der Eindruck auf, dass man ihn fast vergessen habe. Keine Liesegang-Stube in seinen geliebten Rehbergen, kein Liesegang-Ausflugsdampfer auf der Spree und auch kein Liesegang-Museum. Keins im Wedding und auch nicht anderswo. Das ehemalige “Liesegang” an der Ecke Malplaquetstraße heißt heute »Weine & Geflügel«. Eine Liesegang-Weiße gibt’s dort nicht zu bestellen. Mit etwas Glück macht jemand auf der Lesebühne dem Publikum mal den Liesegang. Ansonsten, wer an Berliner Mundart interessiert ist, der wird zuerst wohl Heinrich Zille und dem Milljö auf seiner Quellensuche begegnen. Oder vielleicht den beiden lustigen Lemkes.

Gedenktafel Jonny Liesegang
»Det fiel mir auf / Jonny Liesegang / Zum Gedenken an den / Heimatschriftsteller / der hier gewohnt hat / 6.10.1897 – 30.03.1961«
Jonny Liesegangs Adresse heute ist ein Ehrengrab Ecke Müllerstraße, auf dem Urnenfriedhof Seestraße zu finden. Auf der Übersichtskarte am Eingang liest man seinen Namen indes nicht. Die Liste der Ehrengräber liegt lieblos im Glaskasten, und schlimmer, sie liegt halb verdeckt. Wer das Grab besuchen möchte, dem sei gesagt: der mittlerweile teils verwitterte Grabstein befindet sich in Abteilung II. Man orientiere sich am Denkmal für die Opfer des Aufstands vom 17. Juni 1953, denn ganz in dessen Nähe wird man zwangsläufig auch das Relief des Künstlers auf dessen Grabstein entdecken. Den dazugehörigen, als ordentlich zu bezeichnenden Kaninchenbau daneben gibt’s als Gratisbeigabe dazu.

Links: Denkmal für die Opfer des 17. Juni / Rechts: Ehrengrab Jonny Liesegang
(Alle Zitate aus: Liesegang, Det fiel mir och noch uff! Schnafte Geschichten und dufte Bilder, 1977)
Tobias, im wahren Leben seit 13 Jahren hier und Geschichtspädagoge, schreibt als Johnny einmal wöchentlich unter http://weddingerberg.de einen Elternblog über die ersten Grundschritte als Vater und über das Leben mit einer töchterlichen Naturgewalt im Wedding. Bevorzugt dienstags, ansonsten täglich frisch als @weddingerberg auf Twitter zu finden.
