Mit der Kleenen unterwegs zu sein. Hier und da und in der Welt. Auf allen Straßen. Hier im wunderschönen Wedding. Zeigen möcht’ ich’s ihr. Aus allen Welten etwas. Auch den Widerspruch. Die Vielfalt. Und das Vergessen. Es kann gar nicht früh genug losgehen….
Also gilt’s. Den Wecker stellen. Nichts verpassen. Die Kleene weiß nicht recht. Ist sie ein früher Vogel oder lieber doch die Eule? Feste Strukturen geben ihr nichts. Der Wurm am Morgen dankt es ihr. Ihr Papa morgens ebenso. Entscheiden aber wird sie’s müssen, denn mit dieser Frage wird’s entschieden. Früher Vogel? Später Wurm? Wird sie Mama- oder Papakind? Entscheide weise, kleine Eule.
Wir ziehen uns an. Weißes Shirt mit Sabberfleck. Das steht uns beiden gut. Dann rechts runter in den Goethepark. Den Plötzensee vor Augen. Tägliches Ritual ist’s geworden. Die Kleene folgt Kontrasten, am liebsten dunklen Farben. Für sie ändert sich das Grün. Die Bäume. Oder gleich die ganze Welt. Und so spazieren wir. Wir Schritt für Schritt. Sie gespannt im Kinderwagen. Zu entdecken gibt es allerhand. Ganz nah sind wir, nah der nächsten Wunderwelt. Große Augen macht sie schon, denn manchmal scheint sie näher als man ahnt. An einem Platz. Benannt nach einer Ostseestadt. Dort an der Küste, wo wir als Familie vielleicht den ersten Urlaub machen. Auf einem Bauernhof. An der Ostsee. Mit Ziegen und Schafen und kreisenden Falken. Gänse füttern und Schweine ärgern. Das könnte uns allen gut gefallen.
Eine Wunderwelt? In der Stadt? Im Wedding ausgerechnet? Wer Märchen kennt, der weiß, das Wunder versteckt sich vor der Welt. Manchmal verschwindet es sogar. Wie in jeder guten Geschichte gilt: man muss es suchen. Und wenn die Hauptfigur aufgehört hat zu suchen, ganz verzweifelt ist, dann findet sie’s endlich. Und manchmal ist’s im Niemandsland, manchmal vor der Haustür. Manchmal nah am Plötzensee.
Am Eckernförder Platz. Zwischen Westhafen und Weddingwelt. An den Ufern des Kanals. Man sieht Bänke dort. Sieht Eilende. Sprengelkiez die Richtung. Vielleicht waren sie im Freibad. Gegenüber an der Badestelle. Im Biergarten vielleicht. Viele Kinder jedenfalls. Und ihre Elternteile. Manche biegen später ab. Über die Brücke und dann nach Moabit. Einmal bin ich dort gewesen. In diesem Moabit. Als ich noch kein Vater war. Zum Fussball schauen. Zum Whiskey trinken. Seitdem aber ist Moabit nichts weiter als ein Straßenzug. Im Auto oder M27er. Nur manchmal nicht. Während des Kulturfestivals Wedding -Moabit.
Wir blättern weiter. Kapitel Eckernförder Platz. Ins Niemandsland. Vergessen. Wenige finden ihren Weg hinein. Oft scheinen sie froh wieder am Ausgang zu sein. Entkommen, so scheint’s. Ein Abenteuer. Durchatmen erst einmal. Manchmal muss man der Gefahr ins Auge blicken. Als Vater einer weiblichen Naturgewalt ein Klax. Man macht es täglich. Ich sage gern, es lohnt sich. Dieser Platz heut’ ein kleines Wäldchen ist. Nicht durchschaubar, unsichtbar beinah. Man schaut den Menschen nach, die kaum den zweiten Blick in Richtung Wäldchen wagen. Eckernförder Platz. Einst ein Gartenlokal. Bunkeranlage darunter. Doch das ist lange her. Besser wär’s: Eckernförder Wäldchen. Ein magischer Ort im Heute.
Dort alleine ist man nicht. Hat man sich in dessen Mitte vorgewagt, so steht er da, der heimliche Herrscher des Platzes. In Sandstein gehauen. Im Dickicht. Seine Arme hat er eingebüßt. Auch seinen Kopf und andere Teile. Vor langer Zeit, so scheint’s. Im letzten Kriege wohl. Nur die Harfe trägt er noch. Die Baumkronen ihm zugewandt. Aus der Zeit gefallen. An einem fremden Ort. Und nun Zuhause hier. Über hundert Jahre alt. Im Wedding. Von diesem Märchen möcht’ ich der Kleenen erzählen. Vom Eckernförder Platz und wie Orpheus, griechischer Gott, dort sein neues Zuhause fand. Wie man vielleicht überall ein Zuhause finden kann.
Doch wie in jeder guten Geschichte fehlt auch hier die Tragik nicht. Die Tragik des Platzes geht so: Wir sind eine Familie. Im Heute. Doch nicht alle Familien waren im Wedding willkommen. Also wollte man sie versetzen. Gegen ihren Willen. Aus der Londoner Straße. Doch auch hier, am Eckernförder Platz sollten die Familien nicht bleiben dürfen. Anwohner und Lokalbetreiber verhinderten dies. So landeten die Familien aus der Londoner Straße im weit entfernten Marzahn. Ihr neues Zuhause nannte der Umgangston “Zigeunerlager”. 1936 das Jahr.
Zuhause. Damals und heute. Ein Zuhause für die Anderen. Für die, die nicht dazu gehören. Ein Zuhause heut’ für Orpheus. Ohne Kopf und doch präsent. Wieder scheint er aus der Zeit gefallen. Und mit ihm dieser Platz. Ich sollte ihn dort öfter besuchen. Als Hüter des Platzes weiß er, der Wedding hat protestiert. Damals. Als es wichtig war. Für den Frieden. Doch nur für den eigenen. Nicht für den Frieden der anderen. Auch davon möchte ich der Kleenen erzählen: vom Widerspruch im Wedding. Auch, weil er Teil von mir ist. Weil er Teil von ihr ist. Vom ersten Tage an. Auch, weil Märchen das Gute im Menschen hervorbringen können. Aber auch, weil Märchen nicht immer im Einklang mit der Realität zu bringen sind. Und weil rote Märchen, genau wie das Vergessen, nur ein Teil des Ganzen sind.
Tobias schreibt als Johnny einmal wöchentlich unter http://weddingerberg.de einen Elternblog. Aus Papa-Sicht. Worum es geht? Über die ersten Grundschritte als Vater, über das Leben mit einer töchterlichen Naturgewalt und die Fragen, die dieses radikal neue Leben aufwirft. Über den Hauch Prenzlberg im Wedding. Über den Alltag im Afrikanischen Viertel. Schreiben, ohne erhobenen Zeigefinger. Manchmal mit einem Augenzwinkern. Manchmal ohne. Bevorzugt dienstags im Blog, ansonsten täglich als @weddingerberg auf Twitter zu finden.
