Informationsabend für werdende Eltern
Jeden ersten Dienstag bei Sonnenuntergang. 19:00h. Informationsabend im Virchow-Klinikum. Pavillon Mittelallee 10. Für werdende Eltern. Mit Kreißsaalbesichtigung. Intern favorisiere man seit Neuestem eine andere Bezeichnung. Geburtssaal. Das sei passender, heißt es. Chefarzt, Stationsleitung, Hebammen. Ein in die Jahre gekommener Laptop unbekannter Marke übernimmt das Programm. Im Publikum eine schwangere Frau. Ohne Partner und völlig allein. Nein, die Arme. Wie schlimm. Und siehe, auch das überhebliche Mitleid der Komparsen aller Sitzreihen hinter ihr hatte sich eingefunden. Man zeigt natürlich nicht mit Fingern. Beispiel-Eltern in spe. Man übt sich als Vorbild. Tuschelt. Das Ensemble also, es scheint komplett. Hörsaal 6 bis auf den letzten Platz gefüllt. Ich blätter’ durch’s Programm. Es geht los. Erster Aufzug. Erster Satz.
Prof.Dr.med. Stationsarzt versichert, 90% der Väter seien bei der Geburt des Nachwuchses präsent. Im Kreißsaal. Den Geburtssaal meint er bestimmt. Im Wunderland. Uns aber erschien das immer unpassend. Denn wir sind die Anderen. Die Aussätzigen. Zehn Prozent. Ich blättere weiter, warte auf die Getränkekarte. Unauffällig. Seitdem wir wussten, dass wir das Freilos für die Arena des Elternseins gezogen hatten, wussten wir auch, diese wundersame Welt sollte nicht unnötig mit geburtlichen Details belastet sein. Mythisch und aufregend sollte sie bleiben. Welch guter Plan. In der Theorie. “Ein Sonntagskind” war in dieser Theorie nicht vorgesehen. Wir entscheiden bewusst für eine moderne Klinik. Mit Neonatologie. Darüber hinaus in der Nachbarschaft gelegen. Schaut man an diesem Abend durch die Reihen, ein Großteil der Hörerschaft scheint aus umliegenden Bezirken. Ansonsten müsste man annehmen, der Wedding sei bereits angekommen, in der schönen neuen Soja-Latte-Welt.
Auf dem Weg in die Geburtsklinik
Sonntag Morgen, beinah sieben Tage vor orakeltem Geburtstermin, 1:00h Ortszeit. Berlin schläft. Wir haben rein gefeiert, wie die jungen Leute so sagen. Gefeiert haben wir. Auf einem anderen Planeten. Wir nennen ihn Neukölln. Scherzhaft, so sind wir eben. Köln sieht in Wirklichkeit ganz anders aus. Nach sieben oder acht gefühlten Wochen Arbeitens am Limit schmeckte der Rioja nach Südsee-Urlaub, gar nach Wellness. Der rote Wein, jeden Cent scheint er wert. Hinter mir steht ein Kicker. Das ist immer ein gutes Zeichen. Aber dazu an späterer Stelle vielleicht mehr.
Auf dem Weg zum Taxistand. Hermannplatz. Ein Anruf. Blasensprung. Verwirrt. Fruchtwasser. Achso. 40 Minuten und alle Umwege und Tunnel dieser Stadt zwischen Neukölln und Wedding später bin ich vor Ort. Auf den Mythos Storchenparkplatz wetten wir nicht. Ich wette ohnehin nur noch selten. Habe ich mir abgewöhnt. Ergo laufen wir. Eingang Augustenburger Platz. Vorbei an der Kapelle. Mittelallee 9. Klinik für Geburtsmedizin. Der Fahrstuhl öffnet sich. Wir stehen davor. Ich bilde mir ein, der einsamste Ort der Welt es sei. Doch wie viele Menschen auf den Beinen sind. Wie viele von ihnen in Trauben, am Tropf, heimlich rauchend, mit Handys in Händen. Zirkus-Atmosphäre. Nein, so viel Leben hätte ich sonntagmorgens hier nicht erwartet. Zuckerstückchen an der Anmeldung. Und warm ist es. Tropisch. Ich denke an den Amazonas, an Ed Stafford, mein nie begonnenes Survival-Training. Ich bin verloren. Und viel zu warm eingepackt. Ob ich mein T-Shirt ausziehen könne, überlege ich noch. Es erscheint mir aber unangebracht.
Wartende Männer, wartende Frauen
Man hört Seufzen. Zwischen den Zimmern. Auf den Gängen. Frauen. Auf den schönsten Moment ihres Lebens wartend. Habe ich gelesen. Als Mann hege ich Zweifel. Mich beschleicht das Gefühl, das Wunder des Lebens, hier findet’s nicht statt. Keine Halbgötter in weiß in Sicht. Auch keine Engel. Nur manchmal meint man, man sähe Schattenspiele. Zwischen den Stationen. Hinter verschlossenen Toren. Vielleicht ist das Wunder des Lebens nur ein laufendes Band. In einem riesigen Krankenhaus. Nachts um halb zwei. Morgen für morgen kommt es zur Welt. Später erfahren wir, es gab in dieser Nacht weitere acht Geburten. Eine mehr als die sieben Weltwunder. Hebammen sah ich zwei. Plus zwei im Sinn vielleicht. Als späte Erkenntnis nehme ich mit, das Leben kommt. Mit aller Macht. Besonders nachts. Besonders am Leben ist, was man besonders daran macht. Dem neuen Leben. Dem allergrößten Schatz.
Männer gibt es auch. Sind Falschgeld, im Schlepptau. “Englishmen in New York” würde Sting sagen wäre er hier. Männer. Sie werden zu Schoßhündchen, zu Gepäck- oder besseren Liftboys. Manch männliches Gesicht scheint leer. Selbst Stationsärzte meiden den Ort. Wird einer gerufen folgt Stille. Zu sehen ist er nicht. Wie gut, dass man für einen Geburtsvorgang keinen Arzt braucht. Versichert man uns. Wir bewegen uns in Hebammen-Territorium. Ich füge mich. Ich werde Gepäckboy. Stelle mir vor, ich trüge eine rote Uniform. Mit Mütze. Ich drücke den Knopf. Damit kenn’ ich mich aus.
Und dann ist’s soweit
Dreißig Minuten. Auf Plastikstühlen. Geburtskarten lesen. Partiellen Chantalismus stelle ich fest. Die Symptome sind eindeutig. Eine weitere Stunde. Das CTG hat aufgrund einer leeren Farbkartusche die Aussagekraft einer Kristallkugel im Sommermorgen. Nur draußen kein Vogel in Sicht. Die dann und wann anwesende Hebamme überspielt’s, stellt fest: “Wir fahren besser sofort in den Kreißsaal!” Sie weiß, was sie macht. Ein einsamer Ort fühlt sich anders an, denk ich noch. Ob sie den Geburtssaal meint? Um 5:07h ist’s soweit. Ob ich die Nabelschnur durchschneiden wolle? Ich dachte, ich bin hier der Papa, nicht der Totengräber. Ich baue mich auf, haue meine Faust in den imaginären Amazonas-Strand und rufe: “Ihr Wahnsinnigen!” – verneine ganz leise. Meine gequetschten Finger habe ich für einen Moment vergessen.
Ein wenig verweilen. Bis die Arbeit ruft. Erwerbsleben. Dann eile ich wieder ins Klinikum. Zur Kleenen und ihrer Mutter. Sting komme heute später, heißt es noch im Schwesternzimmer. Ich beschließe, dann eben allein für die Kleene zu singen. Ohne Sting. Wir leihen uns den Kinderwagen. Auch, da wir kein Familienzimmer haben. Und wir der Nachbarin den Besuch ihrer Großfamilie gönnen. Zwei Tage später dann sind wir allein. Zuhause. Ich feile an meiner Gesangs-Einlage. Es ist der erste Dienstag im Monat. Wie damals. Am Informationsabend. Es schließt sich der Kreis. Dem aber werde ich erst viel später gewahr.
Vielleicht bin ich der Neue hier. So schön ist’s hier zu sein. Ich freu mich wirklich sehr. Tobias mein Klarname. Freunde sagen Johnny. Oder Tobi. Ich bin seit 2001 mit dem Wedding verbunden. Kurzzeitig trieb ich mich in Mitte-Mitte herum. Das ist aber schon wieder lange her. Seit wenigen Monaten nun bin ich Vater einer echten Weddingerin. Sowas verbindet. Tief. Ich schreibe am liebsten über meine Kleene. Als Papa-Blogger. Unter http://weddingerberg.de Und über meinen Kiez. Afrikanisches Viertel. Und alles, was daran angrenzt. Natürlich. Mein erster Artikel für den Weddingweiser war “Über Vergessen und Magie am Eckernförder Platz”. Hier nun sozusagen Episode 01. Wie alles begann.
