Die Bundestagswahl im September rückt näher. Anlass für den Weddingweiser sich mit Özcan Mutlu zu verabreden, der als Direktkandidat der Grünen im Wahlkreis Berlin-Mitte kandidiert. Wir treffen ihn an einem sonnigen Nachmittag im Café Lichtburg, wo er unsere Fragen beantwortet.
WW: Herr Mutlu, können Sie sich den Weddingern, die sie noch nicht kennen, kurz vorstellen?
Ich heiße Özcan Mutlu. Im normalen Leben bin ich Diplom-Ingenieur der Nachrichtentechnik, aber seit 1999 bin ich im Abgeordnetenhaus von Berlin und arbeite nicht mehr als Ingenieur. Seit meiner Einbürgerung 1990 bin ich in der Politik und habe mich dort immer auch in Sachen Bildungspolitik eingesetzt, weil ich glaube, dass Bildungspolitik die beste Integrationspolitik ist, die man machen kann. Momentan bin ich der bildungspolitische Sprecher der Grünen. Ich bin verheiratet und habe zwei Kinder.
WW: Die Chancen stehen gut, dass Sie nach der Wahl im September in den Bundestag einziehen. Was werden Ihre politischen Schwerpunkte sein?
Ich werde mit großer Wahrscheinlichkeit auch im Bundestag Bildungspolitik machen, wobei man einschränkend sagen muss, dass aufgrund des Kooperationsverbotes Bildung ja eher Landesangelegenheit ist. Deshalb werde ich sicherlich auch andere Themen beackern, und zwar Themen, die die Menschen in Mitte beschäftigen: soziale Gerechtigkeit, bezahlbare Mieten, Jugendarbeitslosigkeit. Das sind Themen, bei denen ich mich im Bundestag immer auch im Interesse des Wahlkreises einsetzen werde, damit sich die Verhältnisse zum Besseren verändern. Damit Menschen nicht aufgrund ihres Einkommens ihre Wohnung verlassen müssen, und Menschen nicht diskriminiert werden, weil sie eine andere Herkunft haben, oder Schüler, deren Eltern keine Facharbeiter sind, nicht eine schlechtere Bildung bekommen. Es ist ein Sammelsurium an Themen, weil Mitte sehr vielfältig ist, und genau diese Themenvielfalt will ich im Interesse meines Wahlkreises Berlin-Mitte angehen.
WW: Was muss sich Ihrer Meinung nach konkret verändern, um Chancengleichheit in der Bildung gewährleisten zu können?
Mehrere internationale Studien, wie die PISA, IGLU, TIMSS-Studie etc. haben nachgewiesen, dass unser Bildungssystem nicht gerecht ist. Wir haben ein sehr differenziertes Schulsystem, das gegliedert ist in verschiedene Schultypen. Von der Hauptschule bis zum Gymnasium gibt es etliche Schulformen. Und diese unterschiedlichen Schulformen begünstigen die Chancenungleicheit. Insbesondere durch den Druck von Bündnis 90/Die Grünen, haben wir hier in Berlin eine Bildungsreform durchgesetzt mit dem Ergebnis, dass es hier jetzt eben keine Hauptschule mehr gibt. In Berlin gibt es lediglich das Gymnasium und die Sekundarschule, die aber nach oben durchlässig ist. Man kann auch in der Sekundarschule Abitur machen, wenn man ein Jahr länger zur Schule geht. Für Hauptschüler war das früher nicht möglich. Das ist ein Stück weit mehr Gerechtigkeit und eröffnet vor allem Arbeiter- und Migrantenkindern die Möglichkeit zum Abitur.
Das Schulsystem ist aber nicht nur ein Problem in Berlin, sondern ein Problem der ganzen Republik. Also muss man sehen, dass man Gerechtigkeit auch in anderen Bundesländern schafft. Da kommt uns natürlich das Kooperationsverbot in die Quere, weshalb ich mich dafür einsetzen werde, dass das Kooperationsverbot aufgehoben wird. Soziale Gerechtigkeit heißt für mich auch, in der Bildung Chancengleichheit zu schaffen. Egal, wo ein Kind herkommt, oder wie dick das elterliche Portemonnaie ist – Alle Kinder sollen die bestmögliche Förderung bekommen.
WW: Was würden Sie Weddinger Eltern sagen, die überlegen vor der Einschulung ihrer Kinder in einen anderen Bezirk zu ziehen?
Es gibt viele Eltern, die denken, dass Schulen mit hohem Migrantenanteil per se schlecht sind. Wenn diese engagierten Eltern dann wegziehen, wird ein negativer Trend zusätzlich verstärkt. Dem kann man nur auf zwei Wegen entgegentreten. Zum einen muss man die Schulen öffnen für Elternarbeit, und man muss sie auch für andere Professionen öffnen, also nicht nur für Lehrer, sondern auch für andere Pädagogen. Auch Handwerker, Künstler oder Musiker sollen im Rahmen von AGs und Projekten in die Schulen können. Wir müssen weg von diesem 08/15-Frontalunterricht. Auf diese Weise schaffen wir Qualität in der Bildung. Das ist der eine Weg: Qualität.
Der andere Weg ist, sich von dem Glauben zu verabschieden, jede Schule in Berlin müsse in gleicher Weise gefördert werden. Zur Zeit ist es so, dass jede Schule die gleiche Zuweisung und Mittel bekommt. Zusätzlich gibt es dann noch einige Sozialzuschläge, aber immer nur kleckerweise. Das bedeutet, eine Schule in Zehlendorf bekommt im Grunde nahezu die gleichen Mittel und Personal wie eine Schule im Wedding. Aber die Probleme der Schulen im Wedding sind vielleicht zehn mal größer als die in Zehlendorf. Also warum nicht mehr Personal für die Weddinger Schulen? Warum nicht die besten Lehrerinnen und Lehrer eines Uni-Jahrgangs in die Schulen der sozial benachteiligten Stadtviertel? Nur so kann man diese Abwärtsspirale aufhalten: weg vom Gießkannen-Prinzip und mehr Personal in den Schulen in sozial benachteiligten Gebieten.
Oft können die Eltern die Kinder nicht unterstützen, also müssen wir auch den Eltern helfen und die Schulen stärken. Es gibt aber nicht die eine Patentlösung, sondern es sind etliche Schritte, die man einleiten muss, damit man diese Abwärtsspirale aufhält.
WW: Inwiefern prägt Ihr persönlicher Werdegang Ihre Politik?
Ich bin ein Kind von Gastarbeitern. Als ich in Kreuzberg in die Schule kam, waren in meiner Klasse nur Ausländer. Ich habe Glück gehabt: Eine Lehrerin hat in mir wohl irgendwelche Talente gesehen, mich aus dieser Klasse herausgeholt und in eine reguläre Klasse gesteckt. Später wurde ich dann Ingenieur, und das verdanke ich meinen Lehrern. Man kann sagen, ich hatte Glück. Aber Bildung darf eben keine Frage des Glücks sein. Genau das war der Grund, warum ich 1990 den deutschen Pass beantragt habe und in die Politik gegangen bin. Weil ich durch die ganzen Diskriminierungen, die ich im Alltag, in der Schule und an der Universität erlebt habe, irgendwann gesagt habe, du kannst nicht immer nur als Außenstehender jammern und über die Politik schimpfen, sondern du musst Teil davon werden und gegen diese Missstände ankämpfen. Seitdem setze ich mich für soziale Gerechtigkeit ein, für Chancengleichheit in der Bildung. Meine eigene Biographie, meine eigenen Ausgrenzungserfahrungen haben mich in die Politik getrieben, und wenn ich jetzt zurückblicke, war das ein richtiger Schritt. Mir wurde im Leben nichts geschenkt, ich habe immer kämpfen müssen. Jetzt kämpfe ich in Mitte für das Direktmandat und möchte die Bürgerinnen und Bürger mit Direktmandat im Bundestag vertreten. Die Chancen dafür stehen gut, es wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen. 2009 haben wir knapp verloren, am 22. September wollen wir gewinnen.
Das Interview führte Ingo Scharmann.
