Ein bekennender Weddingeraner bricht eine Lanze für den Bezirk seines Vertrauens…
Ich lebe jetzt schon seit zehn Jahren im schönen Wedding und muss sagen, entgegen aller anfänglichen Bedenken habe ich es nicht bereut, hierher zu ziehen. Die Mieten sind stabil und ich wurde trotz des schlechten Images des Bezirks bisher weder angeschossen, gelyncht, Kiel geholt oder sonst irgendwie verstümmelt. Wie kann das sein? Schließlich gilt der Wedding doch als Bezirk, in dem man nachts nicht auf die Straße gehen und vor all den schlimmen Ausländern seine Frau und Kinder wegsperren sollte. Vielleicht hilft uns ja ein Direktvergleich bei der Lösung dieses Problems. Gut, bei uns gibt es vielleicht keine U-Bahn, die über Tage fährt und extra Kinderwagenplätze in den Bahnwaggons bietet wie im Prenzlauer Berg und den Trams hält auch kein Schrankenwärter vornehm die Tür auf… Aber dafür haben wir noch etwas, was die Ureinwohner solcher Bezirke mittlerweile schmerzlich vermissen. Wir haben noch Stammkneipen, an vielen Ecken.
Die nackte Wahrheit
Wie sieht es mit den Fakten aus? Dem Amt für Statistik Berlin Brandenburg lässt sich aus der Erhebung von 2011 entnehmen, dass es nicht der Bezirk Berlin-Mitte war, zu dem auch der Wedding gehört, der den höchsten Anteil an armutsgefährdeten Einwohnern stellte, sondern der Bezirk Neukölln (mit 22,5 Prozent), gefolgt von Friedrichshain-Kreuzberg (mit 21,3 Prozent). Ok – fairer Weise sollte man erwähnen, dass es Mitte mit seinen läppischen 18 Prozent auch aufs Siegertreppchen schaffte. Wenn man als aufstrebender Szenebezirk immer mehr freischaffende Künstler und arme Studenten anzieht, drückt das eben die Statistik. Aber welches Lebensgefühl lässt sich schon in nackten Zahlen ausdrücken? Menschen können immer und überall in Armut geraten oder ausrasten. Ob im Nobelbezirk oder im Arbeiterviertel. Nur manche Sündenschafe scheinen sich besser in das Gehirn der Allgemeinheit zu brennen als andere. Es ist ein Fakt, dass Flugzeugabstürze viel seltener vorkommen als Autounfälle und dennoch zucken wir bei Meldungen letzterer kaum die Achsel und bei ersteren zusammen. Es ist ein Fakt, dass mehr Menschen im Jahr durch herunterfallende Kokosnüsse sterben, als durch Haiangriffe und worüber drehen wir Filme, die fast zur Ausrottung einer ganzen Spezies führen? Über den weißen Kokosnussbaum? Wohl kaum. Angst ist nicht rational, sie ist emotional.
Ich studierte jahrelang Emotionen an der Universität und muss sagen, dass ich ihre negativen Vertreter hier im Wedding nie praktisch erfahren musste. Ganz im Gegenteil, es gibt kaum einen ruhigeren Stadtteil, der dennoch so tief im Herzen Berlins liegt. Wie überall in Berlin halten die Menschen hier Straßenfeste ab, gehen auf den Markt oder besuchen die großflächigen Parks wie den Volkspark Rehberge, den Schillerpark oder den Goethepark des grünen Afrikanischen Viertels. Zwischen den Letzteren zieht sich die Lebensader des Bezirks, die quirlige Geschäftsstraße „Müllerstraße“ entlang, die gen Norden nach Tegel führt und im Süden in die nicht weniger bekannte Friedrichstraße übergeht. Gerade im grünen Norden Weddings steckt in den kommenden Jahren (wenn denn Berlin doch endlich mal einen hoch kriegt) viel Entwicklungspotential für die dortigen Wohnsiedlungsbereiche, da dann der Wegfall des Tegeler Flughafens dort die Wohnqualität immens erhöhen wird.
Gutes Wedding, Schlechtes Wedding
Natürlich kommen Skeptiker gern mit geografischen Argumenten um die Ecke, wie dem „sozialen Äquator“ der Bernauer Straße oder der mentalen Barriere zwischen Brunnenviertel und Prenzlauer Berg. Aber mal ehrlich. In welcher Stadt gibt es solche sozialen Breiten- und Längengrade nicht? Gerade der kulturelle und demografische Schmelztiegel Berlin ist voll davon. Dagegen sollten die strukturellen Verbesserungen innerhalb des Bezirks endlich einmal wahrgenommen und damit auch gewürdigt werden. „Kulturwirtschaft“ ist hier das Schlagwort, das in dieser Beziehung innerhalb der letzten Jahre zu einer neuen Leichtigkeit des Lebensgefühls im Wedding führte. Kultureinrichtungen wie die Fabrik Osloer Straße, Kolonie Wedding, Wedding Art, Stattbad, Uferhallen, Gerichtshöfe, ExRotaprint und das beliebte Prime Time Theater sprießen an allen Ecken und Enden aus dem Boden. Gerade letzteres Theater, das in seinem abendlichen Programm „Gutes Wedding, Schlechtes Wedding“ all diese sozialen Missverständnisse und Brennpunkte auf ulkigste Weise bearbeitet und sich einer derart großen Beliebtheit erfreut, dass es vor einiger Zeit expandieren musste, nur um von einem Geheimtipp zum hochgepriesensten Volkstheater Berlins zu avancieren, ist ein Paradebeispiel für die Entwicklung dieses Bezirks, die gerade noch in ihren Anfängen steckt…
Autor: Marcel Nakoinz
